Das grausige Grimoire - Der Anfang und das Ende

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Der Anfang und das Ende

Meine Geschichte beginnt mit dem ersten Tod der Welt, dem eines Mannes namens Harold. Er war mein Freund, und ich, der erste Geschichtenerzähler aller Zeiten, hatte ihm versprochen, dass ich im Falle seines Ablebens seine Zeit auf Erden festhalten würde. Er, der zu Gevatter Tod selbst werden sollte, wünschte, dass ich das Leben preisen würde, in dem Wissen, dass es endlich ist.

Und obwohl ich um ihn trauerte, schenkte das Erzählen seiner Geschichte uns beiden Abschluss und erlaubte ihm, in Frieden weiterzuziehen. Und auch viele andere, die gelernt hatten, dieses neue unbekannte Ende zu fürchten, fühlten sich dadurch getröstet.

Während ich Harolds Leben niedergeschrieben hatte, waren andere umgekommen und ich schwor mir und ihren Hinterbliebenen, auch ihr Leben zu dokumentieren.

Die Arbeit war vielseitig und abwechslungsreich - manche Geschichten waren voll Licht und Liebe, andere voll Finsternis und Verzweiflung, und alles mögliche dazwischen. Was mir auch begegnete, das Niederschreiben war gefüllt mit Hoffnung und Entdeckung. Ich arbeitete ohne Rast und doch liebte ich jedes einzelne Wort. Und oft half es jenen Seelen, die sich ans Leben krallten und warteten, dass ihre Geschichten erzählt würden, weiterzuziehen - wie es auch Harold einst getan hatte.

Für jede Geschichte, die ich erzählte, kamen viele weitere auf meine Liste.

Mit der Zeit ebbte die Abwechslung ab und das Ausmaß dieser selbsterlegten Aufgabe drohte mich zu überwältigen, und doch sah ich den Trost, den sie meinem Publikum spendete, und darin den Wert meiner Arbeit, und so fuhr ich fort bis mein eigener Tod mich mit meinem alten Freund wiedervereinte.

Er bat mich, die Arbeit fortzuführen, die Geschichten all jener verharrenden Toten zu sammeln, auf dass sie erleichtert das Leben hinter sich lassen könnten. Die Arbeit war eine scheinbar bodenlose Grube und wurde öde und stumpf, sich ewiglich wiederholende Geschichten mussten wieder und wieder und wieder niedergeschrieben werden.

Meine Aufgabe begann mich zu verbittern und mit ihr auch das Gelöbnis, das ich mit Harold vor vielen Jahren erneuert hatte.

Jahrtausende rackerte ich mich weiter ab, ohne Seele und Gefühl, und doch dämmerte mir dabei ein neuer Schrecken - einer, der mich wünschen lässt, dass meine Arbeit tatsächlich endlos währen würde. Die Tatsache, dass eines Tages - gleich einem einzelnen Leben - auch alles Leben enden muss. Und dass an jenem Tage, an dem ich die Sage dieser letzten anderen Seele niederschreibe, mein großes Werk schließlich vollendet und mein Schwur erfüllt sein wird.

Und doch wird niemand übrig sein, der das Ende meiner eigenen Geschichte niederschreiben kann, niemand, der sie lesen könnte - keine Seele, die mir den Abschluss schenken kann, der mir erlauben wird weiterzuziehen, wie alle vor mir.

So werde ich also verbleiben, als Geschichte ohne Ende, der letzte verharrende Tote...

...zwecklos...

...hoffnungslos...

...auf ewig...

...alleine...

...am...

... Ende.